Besonders in der kalten Jahreszeit muss die BG ETEM zahlreiche Fragen wie diese beantworten: Bin ich versichert, wenn ich mir beim Umsteigen am Bahnhof schnell einen „Coffee to go“ besorge? Wie verhält es sich, wenn ich vor Fahrtantritt mit dem eigenen Auto die Fahrbahn auf Glätte überprüfe? Und was passiert, wenn ich unterwegs einen Zwischenstopp einlege, um Brötchen einzukaufen? In den jüngeren Entscheidungen der Sozialgerichte ist eine restriktive Rechtsprechungstendenz erkennbar.
Was passiert mit dem Versicherungsschutz, wenn ich während meiner betrieblichen Tätigkeit kurzzeitig einer privaten, sogenannten eigenwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehe, die nicht mit der beruflichen Tätigkeit in Verbindung steht? Bislang stand sie unter Versicherungsschutz, sofern sie nebenher erledigt wurde und als „geringfügig“ angesehen werden konnte. Dies war sie dann, wenn sie nur einige Minuten in Anspruch nahm und räumlich im Bereich des Arbeitsplatzes bzw. des versicherten Weges lag.
Eine Besonderheit, die auf dem Weg zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause hinzukommt, ist folgende: Unter Versicherungsschutz steht grundsätzlich der direkte Weg. Kam es zu Unterbrechungen oder Abweichungen von diesem versicherten Weg, so fand in der Vergangenheit die „geringfügige Unterbrechung“ unter Umständen Anwendung. Wege mit einer geringen Abweichung konnten somit unter Versicherungsschutz stehen.
In der jüngeren Rechtsprechung entfernen sich die Sozialgerichte von diesem Konstrukt: Für die Entscheidung, welche Tätigkeiten unter Versicherungsschutzstehen, steht mehr denn je die konkrete „Handlungstendenz“ des Versicherten im Moment des Unfalls im Vordergrund. Ist also der Wille, mit dem ich eine Handlung vollziehe, eher dienstlich geprägt, oder steht ein privates, persönliches Interesse im Vordergrund – und wie zeigt sich dies in meinem Verhalten?
Kaffee mit Folgen
Der Arbeitnehmer L. befand sich auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Beim Warten auf seinen Zug wollte L. im Bahnhof einen „Coffee to go“ kaufen. Direkt vor dem „Coffee to go“-Stand stürzte er auf sein Handgelenk.
Das Sozialgericht Hamburg lehnte die Anerkennung eines Wegeunfalls ab. Es begründete seine Entscheidung damit, dass das Kaufen eines „Coffee to go“ eine private und dadurch unversicherte Handlung darstelle. Bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes sei konsequent darauf abzustellen, welcher Handlungstendenz zum Zeitpunkt des Unfalls ein Versicherter folgt. Für die Prüfung sei dabei auf die kleinste beobachtbare Handlungssequenz abzustellen.
Zum anderen müsse sich das Vorhaben für Dritte beobachtbar und objektivierbar zeigen. Übertragen auf den Kaffeekauf sei das eigenwirtschaftliche Vorhaben für Dritte beobachtbar gewesen, da der Arbeitnehmer die versicherte Tätigkeit (Warten) unterbrochen und sich räumlich und zeitlich einer betriebsfremden Handlung zugewandt habe (Gehen zum „Coffee to go“-Stand). Der Aufenthalt vor dem Stand sei ausschließlich dazu bestimmt gewesen, einen Kaffee zu kaufen (Aktenzeichen: S 40 U 307/16).
Glättetest vor Fahrtantritt
Eine unversicherte Unterbrechung des versicherten Weges von der Wohnung zur Arbeitsstätte sah das Bundessozialgericht bei folgender Fallkonstellation: Bevor er ins Auto stieg, ging der Beschäftigte T. zu Fuß auf die Straße, um den Straßenzustand persönlich auf Glätte zu überprüfen. Auf dem Weg von der Straße zurück zum Auto kam er zu Fall.
Das Gericht sah in der Prüfung der Straßenverhältnisse eine Vorbereitungshandlung, die nicht mehr im unmittelbaren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit (Zurücklegen des Weges) stand.
Der Weg vom Wohnort zur Arbeitsstätte an sich stelle bereits eine Vorbereitungshandlung der eigentlichen Tätigkeit dar. Eine „weitere Vorbereitungshandlung“ könne nur dann versichert sein, wenn sie zeitlich und räumlich als Teil des Weges anzusehen sei. Da aber zumindest räumlich eine deutliche Zäsur stattgefunden habe, bilde das Überprüfen der Straßenverhältnisse keine Einheit mehr mit dem versicherten Weg.
Die Handlung des Versicherten mag zwar aus seiner subjektiven Sicht „vernünftig“ gewesen sein – für Außenstehende objektiv „erforderlich“ sei sie jedoch nicht. Ein vorsichtiges Anfahren ggf. mit Bremsprobe hätte auch ausgereicht, um sich Kenntnis über den Straßenzustand zu verschaffen. (Aktenzeichen: B 2 U 3/16 R)
Das Urteil hat in der Praxis zu Diskussionen geführt. Denn das Verhalten des Beschäftigten, das dem Ausschließen von Gefahren und der Vermeidung eines potenziellen Unfalls diente, ist grundsätzlich zu begrüßen – trotzdem steht es laut BSG-Rechtsprechung nicht unter Versicherungsschutz.
Wann lebt der Versicherungsschutz wieder auf?
Diese Frage hat das Bundessozialgericht in den folgenden Fällen konkretisiert:
Der Beschäftigte K. parkte sein Auto auf dem Weg zur Arbeit auf der Straßenseite gegenüber einer Bäckerei, um dort „Semmeln für eine Brotzeit“ zu kaufen. Er überquerte die Straße, kehrte wegen einer langen Schlange aber wieder um und stürzte auf dem Rückweg zum Pkw. Laut Bundessozialgericht war die Bewegung zum Auto zurück der privaten Verrichtung (Vorhaben: Semmeln kaufen) zuzuordnen. Die Unterbrechung des versicherten Weges sei zum Unfallzeitpunkt noch nicht beendet gewesen. (Aktenzeichen: B 2 U 1/16 R)
Eine vergleichbare Entscheidung fiel zu Lasten der Beschäftigten B., die auf dem Heimweg von der Arbeit anhielt, um in einer Metzgerei etwas zu Essen zu kaufen. Auch hier wurde der versicherte Weg aus privaten Gründen unterbrochen. B. war nach dem Einkauf bereits wieder an der Fahrertür ihres Autos angelangt, als sie stürzte.
Das Erreichen der Fahrertür reichte aus Sicht des Bundessozialgerichts nicht aus, um die eigenwirtschaftliche Tätigkeit zu beenden. Der ursprüngliche Weg müsse objektiv wieder aufgenommen werden, um den Versicherungsschutz aufleben zu lassen. Ob hierfür das Einsteigen, das Motorstarten, das Einfädeln in den Straßenverkehr o. Ä. ausreichend ist, ließ das Gericht in seiner Entscheidung offen. (Aktenzeichen: B 2 U 11/16 R)
Ausblick
Auch künftig wird es spannend bleiben, welche Fallkonstellationen die Sozialgerichte unter Versicherungsschutz stellen und welche nicht. Erste Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern die Nutzung von Fahrdiensten wie Carsharing, „Uber“ oder „TwoGo“ an – wie werden etwaige Umwege hier wohl von den Gerichten gewertet?
Was passiert beim Einsatz von Navigationsgeräten: Ist es meiner privaten Sphäre zuzurechnen, wenn ich mich aufgrund eines fehlerhaften Ziels verfahre? Und wie wird es wohl gewertet, wenn ich mich auf Wegen im Ausland befinde und dort meiner Tätigkeit im Rahmen des „mobile working“ nachgehe?
Bislang gibt es wenige Gerichtsentscheidungen, die die moderne Arbeitswelt berücksichtigen. Es bleibt abzuwarten, dass der Wandel in der Arbeitswelt auch in der Rechtsprechung ankommt. Aus Sicht der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine rechtssichere und allgemein verständliche Rechtsprechung erforderlich, die der Flexibilität in der Arbeitswelt entgegenkommt.
Hannah Schnitzler