Vielen Männern ist sie schon auf der Toilette an einer Autobahnraststätte oder in einem Lokal begegnet: die Fliege im Urinal. Das Bemerkenswerte daran: Sie erfüllt ihren Zweck oft bereits beim ersten Anblick. Denn ein erheblicher Teil der Toilettenbesucher sieht in dem fliegenden Kleintier eine sportliche „Herausforderung“. Richtig zielen und treffen, lautet von nun an die Devise auf dem WC – mit einem positiven Nebeneffekt: Die Kosten für die Reinigung der Toilettenanlagen „mit Fliege“ sind nachweisbar deutlich geringer.
Es lassen sich viele weitere Beispiele nennen. Gemeinsam ist ihnen, dass ein erwünschtes Verhaltens nicht durch Verbote, sondern durch leichtes Anstupsen (englisch: „Nudging“) erzielt wird. Diesen Ansatz haben vor etwa zehn Jahren der Ökonom Richard Thaler und der Jurist Cass Sunstein zu einer weltweit anerkannten Methode entwickelt. Unter Nudging verstehen Thaler und Sunstein einen Weg, das Verhalten von Menschen auf vorhersagbare Weise durch Entscheidungsarchitekturen zu beeinflussen.
Auch in vielen Kantinen und Cafeterien werden die Besucher neuerdings zum Zugreifen an der „richtigen“ oder „gesunden“ Stelle gestupst. Obst und Salate warten einladend und griff günstig an den meistgenutzten Wegen. Dagegen verstecken sich Currywurst und süße Nachspeisen abseits hinter einer Glasscheibe und werden nur auf Anfrage vom Kantinenpersonal herübergereicht. Eine einfache Maßnahme, die dazu führt, dass sich deutlich mehr Kollegen gesünder ernähren.
Grundlage der Nudging-Methode ist das Wissen, dass Menschen nicht immer die für sie oder die Gesellschaft beste Entscheidung treffen. Beispielsweise weil Entscheidungen und ihre Konsequenzen zeitlich weit voneinander getrennt sind. Sportliche Betätigung, das Benutzen von Zahnseide oder das Halten einer Diät erfordern einen hohen Einsatz, aber erst nach einiger Zeit profitiert man von dem Einsatz. Kurz: Die Kosten fallen sofort an, den Nutzen fährt man erst viel später ein. Das Ergebnis von zu wenig körperlicher Bewegung oder zu geringer Beachtung der Zahngesundheit sind dann oft Rückenprobleme oder Zahnersatz.
Nudges können hier helfen. Sie geben kleine Anstöße von außen, damit der innere Schweinehund besiegt wird. Manche Kritiker, vor allem amerikanische Politiker, sehen in Nudging eine Bevormundung, die eine freie Wahl nur vorgibt, tatsächlich aber unter Verweis auf das angebliche Wohl einzelner Menschen oder größerer Gruppen mit ihrem Anstupsen einschränkt. Daher ist sicher ein sensibler Einsatz dieser Form geboten – und man sollte darauf achten, dass der Kreis der gestupsten Personen transparent informiert wird und das Vorgehen unterstützt.
Entscheidungsarchitektur
Das menschliche Verhalten folgt nicht nur rationalen Entscheidungsprozessen, sondern wird durch Rahmenbedingungen beeinflusst:
- Verfügbarkeit: z. B. Sicherheitsbekleidung, die gut erreichbar auf dem Weg zur Tätigkeit positioniert ist.
- Bequemlichkeit: z. B. das Festhalten an lang geübten Verbrauchs- oder Verhaltensgewohnheiten
- Feedback: z. B. die positive Rückmeldung einer Geschwindigkeits-Messeinrichtung in Wohnstraßen mit Geschwindigkeitsbegrenzung (siehe Bild)
- Soziale Bindung: Wenn verkündet wird, dass mittlerweile 90 Prozent der Kollegen Sicherheitsbekleidung tragen, wird in Zukunft mehr PSA getragen als durch die Mitteilung, dass 10 Prozent keine tragen.
- Spaß: Wenn das neue Arbeitsmittel attraktiv ist oder die Benutzung Spaß macht, wird es häufiger genutzt.
Anstupsen zur Arbeitssicherheit
Dieses Anstupsen kann auch im Bereich Arbeitssicherheit positive Effekte haben, wie Dr. Christine Gericke, Arbeitspsychologin bei der BG ETEM, beim BG-Forum „Führung. Kommunikation. Verhalten“ in Rheinsberg (Brandenburg) vor mehr als 200 Experten für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz erläuterte. „Auch im Betrieb lässt sich schnelles, effizientes und dennoch instinktiv sicheres und gesundes Verhalten durch Anstupsen erreichen“, ist Gericke überzeugt.
Als Beispiel nannte die Psychologin den sicherheitssteigernden Effekt einer guten Verfügbarkeit von Persönlicher Schutzausrüstung (PSA). Wenn PSA in manchen Betrieben oder Arbeitsbereichen nicht getragen werde, stelle sich die Frage nach den Ursachen. „Warum wird die Schutzausrüstung nicht getragen? Warum werden Regeln nicht eingehalten? Welche Prinzipien könnten hier wirken?“, so Gericke an die Tagungsteilnehmer gerichtet.
Weiteres Beispiel mit Bezug zur Arbeitssicherheit: Nahezu unbewusst werden Autofahrerinnen und -fahrer gebremst, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Heimweg an Ortseinfahrten auf elektronische Anzeigetafeln treffen, die eine überhöhte Geschwindigkeit anzeigen (siehe Bild). Ein rotes Gesicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln führt zum „automatischen“ Tritt aufs Bremspedal, sagte Gericke.
Kreativworkshop als Anstoß
Die Nudging-Methode lässt sich im Betrieb mithilfe eines Kreativworkshops systematisch umsetzen. Darin analysieren drei bis fünf Mitarbeiter aus einem Betriebsbereich, in dem sich Unfälle häufen, unter Anleitung Unfallsituationen und deren Ursachen. Weitere Arbeitsschritte innerhalb des Workshops:
- Übersicht über die Nudging-Prinzipien
- Anwendung von Kreativitätstechniken
- Priorisierung der Ideen
- Planung der Entscheidungsarchitektur
- Schritte zur Wirksamkeitsprüfung
- Planung betrieblicher Kommunikation.