Heftpflaster ĂŒber Kreuz

Bagatell-UnfÀlle sollten nicht verharmlost werden

Logo kommmitmensch – Sicher. Gesund. Miteinander

Die Kampagne kommmitmensch der BG ETEM hat zum Ziel, den Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit fĂŒr alle Menschen, jede Organisation und die Gesellschaft zu erhöhen. Denn prĂ€ventives Handeln ist lohnend und sinnstiftend. Um dieses Vorhaben zu unterstĂŒtzen, hat die BG ETEM das Center for Responsible Research and Innovation (CeRRI) des Fraunhofer IAO beauftragt, in fĂŒnf Mitgliedsunternehmen insgesamt 40 Interviews zum betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz durchzufĂŒhren. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass noch zu selten erkannt wird, was Beinahe- und Bagatell-UnfĂ€lle fĂŒr einen vorausschauenden und prĂ€ventiven Arbeits- und Gesundheitsschutz im betrieblichen Alltag bedeuten.

Beinahe-UnfÀlle

Kommt es im betrieblichen Alltag zu einer gefĂ€hrlichen Situation, ohne dass sich die beteiligten Personen verletzen oder ein Sachschaden entsteht, spricht man von einem Beinahe-Unfall. Wie die vom Fraunhofer CeRRI durchgefĂŒhrten Interviews zeigen, werden gerade Beinahe-UnfĂ€lle hĂ€ufig mit den Worten „Es ist doch nichts Schlimmes passiert“ abgetan. Bisher haben nur wenige Betriebe erkannt, dass der Umgang mit solchen Ereignissen fĂŒr die Bedeutung steht, die in dem Betrieb Sicherheit und Gesundheit beigemessen werden. Die Dokumentation kann als Aufmerksamkeitslenker verstanden werden und dient der Sensibilisierung. Das unterstreicht der folgende Ausschnitt eines Interviews mit einer FĂŒhrungskraft: „[Ein Beinahe-Unfall] wird nicht zentral gesammelt. Wenn es so relevant ist, dass wir unsere AblĂ€ufe verĂ€ndern mĂŒssen, [
] dann wird das natĂŒrlich auch entsprechend in unsere AblĂ€ufe, in unsere Prozesse integriert und dann gibt es eine Belehrung.“

Wie aber erfahren die zustĂ€ndigen Personen von einem der Aussage nach relevanten Beinahe-Unfall, wenn dieser nicht dokumentiert wird? Schließlich erfordert ein solcher Zwischenfall, AblĂ€ufe und Prozesse entsprechend anzupassen. HĂ€ufig bauen Unternehmen darauf, dass einzelne BeschĂ€ftigte so mitteilungsbereit und weitsichtig sind, wesentliche Beinahe-UnfĂ€lle proaktiv zu melden. Dabei wird jedoch nicht berĂŒcksichtigt, dass Menschen Situationen unterschiedlich einschĂ€tzen und bewerten. Das gilt erst recht, wenn sie nie fĂŒr die Relevanz von Beinahe-UnfĂ€llen sensibilisiert und im Umgang mit diesen geschult wurden. Dementsprechend ermöglicht eine generelle Dokumentation aller Beinahe-UnfĂ€lle den Verantwortlichen, diese zu bewerten und prĂ€ventive Maßnahmen abzuleiten – damit aus dem Beinahe-Unfall nicht irgendwann das „Beinahe“ gestrichen wird, weil ein Mensch zu Schaden gekommen ist.

„Es ist fĂŒr viele normal, dass man sich in den Finger schneidet: Die Meldung ist ihnen nicht peinlich, sondern lĂ€stig!“
Sicherheitsexperte

Bagatell-UnfÀlle

Im Gegensatz zu Beinahe-UnfĂ€llen sind bei Bagatell-UnfĂ€llen Verletzungen entstanden, die jedoch als geringfĂŒgig eingestuft werden. Die Betroffenen nehmen in der Regel keinen Ă€rztlichen Rat in Anspruch, sondern behelfen sich mit Pflastern und Verbandmaterial selbst.

Wie das Interview-Zitat links zeigt, gehören Bagatell-UnfÀlle in einigen Betrieben zum Arbeitsalltag. Dabei empfinden BeschÀftigte den Aufwand, der mit einer Dokumentation verbunden ist, insbesondere dann als lÀstig, wenn der Dokumentationsprozess umstÀndlich gestaltet ist. Daher sollte der Verbandkasten seinen festen Platz haben, ebenso das Verbandbuch, welches unter Verschluss gehalten werden muss. Wird dieses beim Ersthelfer verwahrt, erhöht dies die Bereitschaft zur Dokumentation.

Neben der Argumentation, dass viele im Unternehmen eine Dokumentation störend finden, haben die Befragten auch Geschlechterstereotype als BegrĂŒndung angefĂŒhrt. Ganz nach dem Motto „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ gelten viele kleinere Verletzungen als Lappalien, die einen „wahren“ Mann nicht kratzen. So berichteten die Befragten (hier ein Sicherheitsexperte), dass insbesondere unter Kollegen zu hören ist: „Hab dich nicht so, du bist ja schließlich ein Mann“.

Damit wird eingefordert, dass einem gefĂ€hrlichen MĂ€nnlichkeitsideal gefolgt wird: denn auch kleine Verletzungen können sich entzĂŒnden und dann schwere SpĂ€tfolgen nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund sollten sich insbesondere FĂŒhrungskrĂ€fte ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und gegen stereotype Aussagen vorgehen, die zum Bagatellisieren von Verletzungen beitragen.

Selbst schuld?

Eine Kultur der PrĂ€vention zeichnet sich dadurch aus, dass Beinahe- und Bagatell-UnfĂ€lle nicht einfach auf individuelles Fehlverhalten zurĂŒckgefĂŒhrt werden, sondern immer die Frage nach den Bedingungen gestellt wird, die dieses Verhalten ermöglicht haben. Wie das nachfolgende Zitat einer FĂŒhrungskraft zeigt, ist dies bisher noch nicht die Regel: „Ich denke, wenn solche UnfĂ€lle passieren, ist es immer eigenes Verschulden, dass man unachtsam ist und auch sagt: ,Mensch komm, machen wir einfach mal.‘ Aber von der Sache her, wenn man die uns zur VerfĂŒgung gestellten Werkzeuge vernĂŒnftig nutzt, dĂŒrfte nichts passieren.“

Eine betriebliche Kultur, die zuerst den BeschĂ€ftigten die Schuld zuschiebt, fördert das Schweigen ĂŒber Beinahe- und Bagatell-UnfĂ€lle und erschwert es dem Betrieb, daraus zu lernen.

Kultur der PrÀvention

Die Analyse von Beinahe- und Bagatell-UnfĂ€llen leistet einen Beitrag zur Etablierung einer Kultur der PrĂ€vention: Sie weist auf MissstĂ€nde hin und gibt Anhaltspunkte dafĂŒr, wo Handlungsbedarf besteht. Es sind wenige Fragen nötig, um die Ursachen aufzudecken:

  • Wie ist die Situation entstanden?
  • Warum ist sie entstanden?
  • Welche Rahmenbedingungen haben zur Entstehung beigetragen?
  • Was benötigen die BeschĂ€ftigten, damit derartige Situationen zukĂŒnftig nicht wieder entstehen?

Hilfreiche Informationen fĂŒr den Weg zu einer Kultur der PrĂ€vention bietet auch die DGUV Praxishilfe „Fehlerkultur – Noch mal GlĂŒck gehabt“.

Vivien IfflĂ€nder, Projektleiterin „Sicherheit und Gesundheit im Betrieb leben“, Center for Responsible Research and Innovation des Fraunhofer IAO, www.cerri.fraunhofer.de

Fehlerkultur etablieren

Meldung von Beinahe-UnfÀllen erleichtern

  • Ohne Sanktionen melden
    BeschĂ€ftigte, die Ereignisse melden, mĂŒssen keine Sanktionen fĂŒrchten.
  • Vertraulich melden
    Die IdentitÀt der Berichtenden wird vertraulich behandelt.
  • Zeitnahe RĂŒckmeldung und Umsetzung
    Die Berichte werden zeitnah analysiert und die Empfehlungen werden zĂŒgig umgesetzt. Die Ergebnisse werden den Berichtenden kommuniziert.
  • Fokus auf Systeme und Prozesse
    Die Empfehlungen fokussieren auf VerÀnderungen von Systemen, Prozessen oder Produkten.
  • Einfache Meldemöglichkeit
    Es gibt ein einfaches Meldeverfahren, das fĂŒr jede und jeden verstĂ€ndlich und zugĂ€nglich ist.

Quelle: DGUV Praxishilfe „Fehlerkultur – Noch mal GlĂŒck gehabt“